Adventsgedanken vom 20.12.2023
Wie Fidde ins Rauhe Haus kam
Fidde war ein richtiger Hamburger Junge. Er wurde um das Jahr 1820 herum geboren und lebte in Hamburg. Ganz genau konnte er mir sein Geburtsdatum leider nicht sagen, denn seine Eltern waren vor einigen Jahren an einer Epidemie gestorben. In der Zeit war es fast normal, denn kurze Zeit vorher zog er mit seiner Familie vom Lande in die Stadt. Und in der Stadt war es eng!
Die damalige Zeit war eine harte Zeit: Es gab noch kein elektrisches Licht, keine Wasserleitungen und damit auch kein fließendes Wasser in den Häusern. Im Innenhof der Hausanlage stand eine Pumpe, dort musste man sich dann Wasser holen, wenn man etwas brauchte. In der Straße gab es nur Kutschen, die die Menschen beförderten. Sonst lief man und zog seinen Karren, um schwere Sachen zu transportieren.
Seine Eltern fanden schließlich Betten, wo sie schlafen konnten und einen Arbeitsplatz an einer der neuen Webmaschinen, die Dank der Erfindungen sich jeweils in den Städten ansiedelten.
Die Betten wurden aber mindestens zweimal vermietet, denn es gab in der Hamburger Vorstadt nur wenige Häuser. Der Hausbesitzer, der Geld verdienen wollte, vermietete die Betten mehrfach. Man schlief aber auch in Sälen, in denen mehrere Familien wohnten, nur getrennt durch dünnen Bretterwände.
Die Menschen hatten damals über 10 Stunden zu arbeiten. Kinder arbeiteten genauso. Und immer schlief dann derjenige im Bett, der jeweils frei hatte. Dadurch wurde eine einfache Grippe gleich zu einer Epidemie, denn man steckte sich leicht an, da keine Zeit war, das Federbett richtig zu lüften. So starben dann Fiddes Eltern. Fidde und seine Geschwister wuchsen als Waisenkinder auf.
Wovon sollten sie leben? Eine Krankenversicherung, eine Rente gab es noch nicht. Also blieb den Geschwistern nichts übrig, als durch die Straßen zu lungern und hier und da zu klauen. Mal einen Apfel oder ein Stück Gemüse. Einige Male wurde Fidde schon von der Polizei erwischt und ermahnt.
Zu der Zeit wirkte in der Kirche in der Vorstadt von Hamburg ein Pastor mit Namen Johannes Rautenberg. Zusammen mit Helfern wurde 1825 unter Pastor Rautenberg die Sonntagsschule gegründet. Hier durfte ein Johann Hinrich Wichern als Oberlehrer (nach seinem ersten theologischen Examen) seine erste Anstellung antreten. Heute wird dies Kindergottesdienst genannt.
In der Sonntagsschule wurde anhand biblischer Geschichten Schreiben und Rechnen gelernt. Wenn es draußen frostig war, war es in der Kirche wärmer als draußen.
Wichern erkannte ganz schnell, welche Not in der Vorstadt St. Georg herrschte. Um die Kinder besser kennenzulernen, besuchten die Lehrer die Familie und die alleinstehenden Kinder. Fidde liebte die Herzenswärme und ging dadurch am Sonntag gerne in die Sonntagsschule. Dort lernte er dann den jungen Oberlehrer kennen und er gewann Zutrauen zu ihm, erzählte ihm, wie es um ihn stand.
Wichern drängte es sehr, die Situation dieser armen Bevölkerung zu verändern und er hatte Ideen und Träume, die in seinem Kopfe wuchsen, als er die Not des Stadtteiles sah. Er träumte von einem Haus, wo er all die Kinder sammeln konnte, die als Waisen durch die Stadt lungerten, um ihnen eine neue Geborgenheit zu geben. Solche Rettungshäuser gab es schon in Süddeutschland.
Er besprach diese Idee dann mit seinen Freunden. Wichern soll sogar zuvor in Korntal bei Stuttgart gewesen sein, um das Rettungshaus in Korntal kennenzulernen.
Im Jahr 1833 kam dann die große Hilfe. Ihm wurde ein Grundstück weit draußen vor den Toren Hamburgs angeboten. Auf dem Grundstück stand eine alte Strohkate, in der der Gärtner wohnte, der gerade dabei war, auszuziehen. „Dat Ruge Hus“ wurde es genannt. Man weiß nicht, woher der Name stammte. War es ein Vorbesitzer, der „Ruge“ hieß? Jedenfalls entwickelte sich der Name „Rauhes Haus“ in der kommenden Zeit für diese alte baufällige Bauernkate und für das ganze Grundstück. Am 31. Oktober 1833 zog dann Johann Hinrich Wichern mit seiner Mutter, einer Schwester und einem jüngeren Bruder in das renovierte Rauhe Haus ein. Am 8. November kamen die ersten drei Jungen aus der Vorstadt Hamburgs hinzu, die er aus der St. Georger Zeit schon kannte und am Jahresende waren bereits 12 Kinder dort, die im Rauhen Haus aufgenommen wurden. Ein kleines Werk, das später einmal die ganze Kirche veränderte, begann zu wachsen.
Dat „Ruge Hus“ in Horn in der Nähe von Hamburg war der Beginn der Arbeit von Johann Hinrich Wichern. Fidde, war eines der ersten Kinder, die auch mit in das Rauhe Haus einzogen. Obwohl Fidde schon manche Diebereien gemacht hatte, kam er nicht in ein Zuchthaus, sondern er wurde erst einmal in eine Badewanne gesteckt und hinterher kam Wichern zu ihm und sprach mit ihm: „Schau mal an, Fidde, wie sauber und schön du jetzt bist! Du bist ein neuer Mensch geworden. Alles Böse ist von dir abgewaschen. Alles ist dir vergeben. Wir haben den äußeren Schmutz beseitigt und Gott macht dich in deinem Herzen rein!“
Die Mutter von Johann Hinrich Wichern war ab jetzt die Mutter für alle Kinder. Alle neu hinzukommenden Kinder wurden in der neuen Familie herzlich aufgenommen und es entwickelte sich ein vollkommen neues Familienleben in dieser alten Strohkate.
Die Kinder wurden in eine feste Tagesordnung eingebunden und es wurden alle Dinge selbst gemacht. Es gab kein Dienstpersonal, sondern man räumte selbst auf, machte die Betten, bereitete die Mahlzeiten vor und hatte hinterher den Abwasch, wie in einer ganz normalen Familie. Es gab Schulunterricht, im Sommer weniger, im Winter mehr, man hörte biblische Geschichten, lernte Lesen und Schreiben. Selbst die Musik spielte eine große Rolle, wie überhaupt die Sinne für alles Schöne bei den Kindern geweckt wurden.
Gunter Hell