ADVENTSVERÄCHTER

Nun beginnt sie wieder: die Hochsaison der Weihnachtsnörgler und Adventsverächter. Wie jedes Jahr – das ist auch so ein Ritual – stimmen sie ihr altbekanntes Klagelied an. Dass nun der Weihnachtsstress beginnt. Dass man plötzlich all diese Geschenke besorgen muss. Dass wieder der Konsumterror über unschuldige Menschen hereinbricht. Dass man nirgends der kitschigen Weihnachtsmusik entkommen kann. Dass Glühweinstände die Innenstadt blockieren und die Luft verpesten. Dass es nichts Vernünftiges mehr im Fernsehen zu sehen gibt. Dass man von Besinnung zu Besinnung hetzen muss. Hört man sich diese Leier länger an, bekommt man fast den Eindruck, als wäre das Weihnachtsfest die größte aller Menschheitsplagen.

Ich kann das nicht nachvollziehen. Allein das Wort „Konsumterror“ ist eine Geschmacklosigkeit. Gegenwärtig gibt es so viel Terror in der Welt, dass man das bisschen Weihnachtskauferei damit nicht vergleichen sollte. Auch sollte man als Erwachsener gelernt haben, dass der meiste Stress eigenverschuldet ist. Was Lebenshektik angeht, ist man sich bekanntlich selbst der größte Feind. Aber gibt es vor Weihnachten wirklich so viel zu tun? Zum Beispiel das aufgebauschte Geschenkproblem: Man bedenke einmal, was Menschen in südlichen Weltgegenden zu leisten haben, wo es noch eine vormoderne Kultur des Schenkens gibt. Steht bei ihnen ein Besuch im Heimatdorf an, müssen sie ungezählten Tanten und Vettern mit Aufmerksamkeiten erfreuen. Hierzulande wird nur die eigene Kleinfamilie beschenkt, eine überschaubare Gruppe. Das sollte man doch hinbekommen, für diese Allernächsten mit Bedacht etwas Passendes auszusuchen. Es muss gar nicht viel sein. Wer hat eigentlich den Befehl gegeben, dass man Kinder und Ehepartner mit Präsenten überhäufen soll? Oder wird da etwas abgebüßt? Die Reformation hat vor einem halben Jahrtausend den Ablass abgeschafft. Traurig, wenn er in einigen Familien überlebt haben sollte.

Den meisten Weihnachtsstress kann man vermeiden, indem man sich wie ein mündiger Konsument verhält. Man sollte bewusst wählen, wann und wie lange man einkaufen geht, wie viele Weihnachtsmärkte und Adventsbazare man besucht, wann man den Fernseher oder das Radio an- oder abschaltet. Auch kann man selbst entscheiden, wie lange man den Betriebs- und Schulfeiern beiwohnt, wie viel man isst und trinkt. Einem gewissen Pflichtprogramm ist wohl nicht zu entkommen. Aber dann kann man sich mit dem Gedanken trösten, dass damit diese Sozialverpflichtungen für ein ganzes Jahr abgegolten sind.

Für mich stellte die letzte Woche vor Weihnachten, als ich noch als Pastor tätig war, die schönste Zeit im ganzen Jahr dar. Nie sonst konnte ich so konzentriert und entspannt arbeiten. Meine Kollegen waren beschäftigt, und die Gemeindeglieder schonten mich. Nur ganz wenige Anrufe, Termine, E-Mails störten mich. So konnte ich in himmlischer Ruhe meine Gottesdienste vorbereiten, die altbekannten Lieder auswählen und meine Predigten schreiben. Weihnachtsstress? Wir erleben gegenwärtig so viele Krisen – ökonomischer und ökologischer, sozialer und moralischer Art –, da dürften die Herausforderungen der Festvorbereitung das Geringste unserer Probleme sein. Ein gewisses Maß an Lebensklugheit sollte genügen, uns vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Wenn man erkennen will, worum sich der ganze Trubel dreht, wenn man dem Geheimniskern von Advent und Weihnachten näher kommen will, dann braucht man noch etwas anderes, nämlich eine Ahnung dessen, was es heißt, dass Gott in Jesus von Nazareth zu uns Menschen gekommen ist.

Johann Hinrich Claussen, Adventsverächter, erstmals erschienen im Hamburger Abendblatt, Ausgabe vom 24.11.2009